Text im Katalog zur Ausstellung
»Rauschen und Dämmern«, 2014, von Uwe M. Schneede

in der Fabrik der Künste, Hamburg

Chimären und Unerlöste

Das gilt auch für Peter Wehrs Mischwesen. Es sind Bilder der Zwänge, der Verkrampfungen, der Ängste, der Bedrohungen. Sie geben dem Unförmigen Form und den aus der Jugend herüberragenden autobiographischen Belastungen Ausdruck. „Für mich“, äußerte Peter Wehr im Interview für den Ausstellungskatalog 2010, „hatte diese Zeit zum Ende der 50er Jahre immer noch viel mit Angst und Bedrohung zu tun. Der Krieg war ja noch nicht lange vorbei, und mein Vater und mein Bruder waren durch den Krieg umgekommen.“ Doch argumentieren diese Blätter nicht persönlich. Vielmehr überführen sie das Persönliche ins Typische, auch: ins mythologisch Generalisierte (worauf die Titel, Untertitel oder Beschriftungen zuweilen hinweisen: „Herkules“, „Priapos“, „Apoll und Dionysos“).

Der autobiographische Hintergrund schlägt zuweilen besonders gestaltprägend durch. In Mitschuld erwächst aus der Schulter des Mannes ein zweiter, dunkler Kopf. In Umkehrschluß und tiefe Zuneigung hält eine Figur eine andere, die kopfüber gegeben ist. Bei Max Beckmann sind in solchen Fällen der Kopfüber-Kombination zweier Figuren Mann und Frau schicksalhaft unfrei und doch untrennbar miteinander verbunden, sind also die Geschlechterkämpfe angesprochen (Luftakrobaten, 1928; Reise auf dem Fisch, 1934).

Ganz anders bei Peter Wehr. Hier kann der aufrechte Mann den abstürzenden gerade noch für einen Moment berühren, aber er wird ihn nicht aufhalten können. Es scheint der Versuch unternommen, dem lebenslangen Trauma auf bildlich-erfinderischem Wege beizukommen, dem Kriegstod des älteren Bruders. In einem dieser Werke schließen Brust und Schulter einen Kopf mit aufgerissenen Augen und weit offenem Mund ein; es könnte der Kopf eines Toten sein, der Teil des Lebenden geworden ist.

Und dann der waghalsige Übersprung von der Zeichnung in die Malerei, einer Malerei nochmals weitgehend in großen Formaten. Die dunkelgrundigen Leinwände stammen, wie erwähnt, aus den letzten vier Jahren. Sie zeigen nackte menschliche Figuren, die sich scheinbar planlos auf einer Ebene bewegen. Die Figuren sind jetzt keiner Verwandlung mehr unterzogen. Die Ebene ist nackt, ohne landschaftliche oder architektonische Kennzeichen. Es gibt keinen Horizont, dafür endet die Ebene mal rund, mal eckig begrenzt – dahinter eine Abbruchkante und dann ein Nichts. Trotz ihrer Dämpfung verschärfen die rötliche Tönung der Plattform und das Grün des Abgrunds die Situation durch den Komplementärkontrast.

Die Figuren bewegen sich in der Dämmerung. Seitlich fällt schwaches Licht ein, das sie ein wenig aus dem Dunkel heraushebt und ihnen lange Schatten verleiht. Das aufgelöst Flirrende, manchmal Flammende, zuweilen Strahlende, das von diesen Figuren und ihren Rändern ausgeht, sowie der Anschein der Bewegungsdynamik verdanken sich einer Bildtechnik, die Peter Wehr speziell entwickelt hat und die dank chemischer Prozesse Aufhellungen erzeugt, wobei gewissermaßen alchemistisch der Zufall eine wesentliche Rolle spielt.

Die Figuren bewegen sich in ihrer abgedunkelten Atmosphäre nicht miteinander und nicht gegeneinander, sie laufen oder gehen in alle Richtungen, mit Bewegungsimpuls, aber dessen Ursache ist nicht auszumachen und ein Ziel nicht in Sicht. Es könnte sich um Rituale im Dämmerlicht handeln, deren Sinn jedoch unergründlich ist, wenn nicht verloren gegangen: sinnentleerte und daher wirkungslose Rituale.

Auf ihrer Plattform haben die Gestalten keinen Rückhalt und – da ihnen identifizierbare Zuordnungen fehlen – keinen Ort, keine Identität und schon gar nicht einen Bezug zueinander. In Begleitung ihrer teils übergroßen schwarzen Schatten irren sie umher, ohne Aussicht auf ein Ende der ziellosen Hektik. Wenn sie nicht plötzlich erstarrt verharren, als ob sie von einer Katastrophe überrascht seien. Was ihnen bleibt, ist die endlose Wiederholung, und was ihnen noch bleibt, ist der Rand der Plattform-Ebene, der Abgrund, das Nichts.

Dass sich diese Gestalten topographisch und geschichtlich in einem Nirgendwo bewegen, macht sie zu überzeitlichen Symbolfiguren, Personifikationen der anarchisch verkommenen Betriebsamkeit.

In der Ausstellung und in dieser Publikation hat Peter Wehr stilistisch und thematisch zusammengehörige Werke in einigen Fällen zu kleinen Bildgruppen zusammengeführt. Bei den hellgrundigen Papierarbeiten gesellen sich schwarzweiße Figuren zu den farbigen, bei den dunkelgrundigen Ölgemälden sind den Figurenensembles düstere Berglandschaften beigegeben. Diese Bildgruppen haben eigene, programmatische Titel erhalten: Das Irdische und nicht die Erde oder nichts ist festgelegt.

Hier ist der ziellosen menschlichen Unruhe die statische Monumentalität der Landschaft, dem rasch Vergehenden das Ewigwährende gegenübergestellt. Verdunkelt sind auch diese Landschaften. Doch bildet das Erhabene, das den Bergen gerade durch die wenigen Aufhellungen des hoch Herausragenden zugesprochen wird, einen symptomatischen Gegensatz zur Sinnlosigkeit der Menschenbewegungen. Majestätisch und undurchdringlich sind die Berge in diesen beeindruckenden Werkkombinationen die Ruhepole im Verhältnis zu den menschlichen Versehrungen und Verirrungen.

Zwei stilistisch und motivisch unterschiedliche, jeweils in sich geschlossene Komplexe aus dem Werk von Peter Wehr führt diese Publikation vor Augen. Sie spiegelt damit die Präsentation auf den beiden Etagen des Ausstellungshauses 2014 in Hamburg. Den sehr großformatigen Arbeiten auf dem hellen Grund des Papiers aus den Jahren 2007 bis 2009 im Erdgeschoss sind im Obergeschoss dunkelgrundige Leinwandgemälde aus den Jahren 2010 bis 2013 gegenübergestellt. Natürlich haben sich diese neuesten Arbeiten aus den voraufgegangenen entwickelt, aber sie fügen dem bildnerischen Werk doch auch wesentlich neue technische Verfahrensweisen und ikonographische Momente hinzu. Da erstere aus der Zeichnung hervorgegangen, letztere aber in der Malerei realisiert sind, bringt allein schon dieser Wechsel der Medien stilistisch und inhaltlich neue Herausforderungen und dann auch bildnerische Lösungen mit sich.

Betont man den Unterschied zwischen den zeichnungs- und den malereiorientierten Werken Peter Wehrs, muss man sogleich hinzufügen, dass allen, den Papierarbeiten wie den Gemälden, das Skizzieren zugrunde liegt. Seit Jahrzehnten hat Peter Wehr in Dutzenden von Skizzenbüchern die Ideen für größere Formate entwickelt. Zuweilen fast systematisch wurden und werden Köpfe, Körper, Figurenkonstellationen ausprobiert, auf der Suche nach einer tragfähigen Form variiert und in verschiedenen zeichnerischen Techniken erkundet. Dabei spielen Erinnerungen an frühere Kunst hinein; mal sind die Skizzen malerisch, mal karikaturistisch angelegt. Es können auch Bildverfahren auftauchen, die dann für die Malerei eine beträchtliche Rolle spielen werden, so das partiell auf die dunkle Figur fallende kalte gelbe Licht, das diesen Figuren eine bezwingende Sonderexistenz zuspricht. Jedenfalls bildet das dauernde, experimentelle Skizzieren das haltbare Fundament für die gezeichneten und die gemalten Bilder, wie sie nun in den Ausstellunghallen ausgebreitet sind.

Zum freien Künstler wurde Peter Wehr an der Hamburger Hochschule für bildende Künste von Kurt Kranz, Heinz Trökes und Georg Gresko sowie an der Stuttgarter Akademie für bildende Künste von Karl Rössing ausgebildet. Gleichwohl reüssierte er als Gebrauchsgraphiker. Von 1969 bis 1994 lehrte er Kommunikationsdesign an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung, die heute Teil der Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist. Seine gestalterischen Ideen sollten nachhaltig in die Geschichte des modernen Ausstellungskatalogs als eines eigenen Mediums eingehen.

Indes war Peter Wehr – wenn auch zurückgezogen – stets im freien Bereich tätig. Hierorts zeigte er zum ersten Mal im Jahr 2005 eine größere Auswahl von Pastellen und Filzstiftzeichnungen aus den 90er Jahren: ins Phantastische gewendete Köpfe, die sich dem Filzstift verdankten, und geheimnisvoll zueinander oder zu einzelnen Gegenständen ins Verhältnis gesetzte Köpfe in Pastell, denen allemal Bedrückungen auferlegt und Verdüsterungen zugesellt waren. Von „Explosionen des Innenlebens“ schrieb damals Hans Dickel im Katalog.

Es folgte im Jahr 2010 eine große Ausstellung in La Oliva auf Fuerteventura, begleitet von einer umfangreichen Publikation. Sie gab einen Einblick in die frühen Zeichnungen, die an die Neue Sachlichkeit und die Pittura metafisica anknüpften, in den späten 50er Jahren, als sie entstanden, von der Pop Art noch nicht tangiert sein konnten, aber ein ähnlich direktes Wirklichkeitsverhältnis aufweisen. Der Überblick über das Werk bis 2009 wurde im Katalog begleitet von Federzeichnungen aus Skizzenbüchern, in denen die entsprechenden Motive vorbereitet worden waren. Die wichtigsten Werke dieser Ausstellung bilden nun den „hellgrundigen“ Teil der aktuellen Hamburger Schau.

Die farbig gefassten und die schwarzweißen Zeichnungen der hellgrundigen Phase haben dank ihrer inneren Monumentalität bildmäßigen Charakter. Ihre Motive sind Männer, nackten Männer mit ausgebildeten Geschlechtsteilen. Es geht zunächst nicht um Individuen, sondern um die Gattung, den Typus. Der bildnerische Hintergrund mag ein illustrativer Ansatz sein, aber durch das Prinzip der Verwandlung sind diese Figuren in eine andere, nicht reale Existenz versetzt.

Es sind, genauer gesagt, drei Verfahren zu unterscheiden: die Wandlung einer Gestalt in etwas anderes, um das Unwirkliche ins Wirkliche einzuführen, also die Metamorphose, wie sie der Surrealismus extensiv eingesetzt hat; die Erfindung eines Mischwesens, also die Chimäre, wie sie seit der Antike bekannt ist; schließlich das unvermittelte Einpflanzen eines Organs in ein anderes, also die Okulation. Alle drei Verfahren spielen hier eine wichtige, weil bildgebende Rolle.

Metamorphosen können bei Peter Wehr die Verwandlungen eines Wesens in ein anderes sein – so ist der eine Arm der vielgestaltigen Kreatur eine Schlange, und der andere läuft in einen aggressiven Wolfskopf aus. Im Zwiegespräch trägt der weit ausschreitende menschliche Körper einen Hundekopf; ein Arm hat sich ebenfalls in eine Schlange verwandelt. Metamorphosen können auch eine Figur unmittelbar mit einem Gegenstand verbinden – so geht im Hammer mit Mann der Unterarm direkt in das Schlaggerät über. Auf diesem Weg kann auch ein neues, mehrdeutiges Wesen entstehen, die Chimäre, zum Beispiel eine Figur aus Mann und Tiger in wilde Raserei von 2008. Alle diese neuen Figurationen verbreiteten mit ihrer Aggressivität Angst und Schrecken; ja sie sind die Inkarnationen des über die Erde ziehenden Schreckens. Das gilt auch für jene Gestalt in mit den Wölfen heulen, deren linkes Bein in ein vierbeiniges Tier ausläuft und dessen Oberschenkel wie bei einer Okulation, die normalerweise der Pflanzenveredelung dient, grauenerregend zwei Tierköpfe aufgepfropft, eingepflanzt sind.

Der Vorgang der Metamorphose und das Resultat der Chimäre haben von altersher mehrfache Funktionen. Sie verleihen den Albträumen mythisiert Ausdruck, sie bannen apotropäisch das Böse, und sie demonstrieren den Triumph über die Furcht. „Sie mahnen uns vor den Abgründen alles Menschlichen“, hat Dirk Schümer kürzlich geschrieben, „indem sie dem Unförmigen Form geben und das Bildlose abbilden.“