Text im Katalog zur Ausstellung
¿Que hablan las montañas? 1992
von Günther Gercken
im Torre de el Tostón, Cotillo,
Fuerteventura

Natur – Landschaft – Mensch

In seiner Schrift »Ansichten der Natur« hob Alexander von Humboldt die große Bedeutung des Sonnenlichtes für den Natureindruck hervor: »Der Eindruck, welchen der Anblick der Natur in uns zurückläßt, wird minder durch die Eigentümlichkeit der Gegend als durch die Beleuchtung
bestimmt, unter der Berg und Flur, bald bei ätherischer Himmelsbläue, bald im Schatten tiefschwebenden Gewölkes, erscheinen.«3 Dieses Phänomen bestimmt auch den Ausdruck der Aquarelle von Peter Wehr. Der Himmel mit seinen Wolkenbildungen spielt eine gleichgewichtige Rolle wie die Gebirgsformationen, ja er ist ausschlaggebend für das Gesamtkolorit. Das gleißende Licht der Sonne akzentuiert die Schroffheit und Härte des Gesteins, während der düstere Himmel die Berge zu dunklen Massen zusammenzieht. Die schwebenden oder zusammengeballten Wolken bilden in ihrer Luftigkeit einen Kontrast zu der festen und undurchdringlichen Materie. Aquarelle, die in Farbigkeit und Stimmung übereinstimmen, fügen sich zu Dreiergruppen in der Art von Triptychen zusammen, ohne dass sie ein Panorama der wirklichen Landschaft darstellen.

Die Möglichkeit der klassischen und romantischen Assoziationen, die durch die Aquarelle angeregt werden, ist bewußt in der Malerei angelegt, um sie jedoch gleichzeitig in Frage zu stellen. Die Bilder sind Ausdruck eines
modernen Empfindens, für das der Umgang mit der Natur problematisch geworden ist. Am besten läßt sich ihre Wirkung durch das Begriffspaar Evokation und Distanz beschreiben. Hervorgerufen wird der Eindruck der gewaltigen Natur. Doch dieser Eindruck wird als eine Täuschung entlarvt, als ein falscher Glaube an eine unversehrte und dauernde Landschaft. Die Möglichkeit einer romantisch-sentimentalen Rezeption wird unterlaufen durch die Merkmale der zeitgenössischen Malweise, die in ihrer Flächigkeit aus Flecken und aufgespritzten Tropfen an die abstrakte Kunst des Tachismus erinnert. Allgemein gilt für die moderne Malerei, wie Gernot Böhme schrieb: »Die Aura der Kunst wurde durch die desillusionierenden Strategien, durch das Sichtbarmachen des Technischen an der Kunst zerstört, wie durch den expliziten Gebrauch von Zufall.« 4

Die Spannung zwischen Evokation und Distanz hat ihr bildnerisches Äquivalent in der Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellung. Der Betrachter wird nicht illusionistisch in die räumliche Tiefe gezogen,
sondern erfährt in der malerischen Struktur der Bildebene die Distanz zur wirklichen Natur. Konzentriert man den Blick auf die Bildwirklichkeit als das Objekt der Malerei, dann erscheint der Naturausschnitt verfremdet, er wird in den Aquarellen förmlich aufgelöst, um als Bild wieder zu erstehen. Die Illusion der schönen Landschaft überlassen die Aquarelle den Farbphotographien der Werbung und den Reiseprospekten.

Eine weitere Distanzierung erfährt die Naturdarstellung, indem sie zur Folie für die mit Kohle oder Fettkreide ins Bild gezeichneten Schriftzüge wird. Dadurch wird der Charakter des reinen Landschaftsbildes gebrochen. Die künstlerische Schrift stellt formal und inhaltlich ein wichtiges Bildelement dar. Formal bildet die skripturale Struktur der Wörter einen Gegensatz zu dem Bild der Landschaft. Die Schriftebene im Vordergrund macht die Landschaft zur zweiten Ebene und nimmt ihr die illusionistische Tiefe. Der gemalte Landschaftshintergrund tritt mit der Sprache in einen Dialog, der die eigentliche Bedeutung des Bildes ausmacht und der Schlüssel zum
Verständnis ist. Die Naturebene wird durch die Kulturebene der symbolischen Zeichen der Sprache überlagert. Im Bild verbinden sich beide Schichten zu einer Einheit. Mit der Sprache erscheint der Mensch im Bild. So findet sich der Betrachter gleichzeitig vor und in dem Bild, da die Schrift Teil von ihm und seiner Gedanken ist. Mit den Bildworten wird der Naturausschnitt letztlich doch zu einer vom Menschen kultivierten und angeeigneten Landschaft.

Für das Verständnis der Bildaussage ist auch die inhaltliche Bedeutung der sprachlichen Botschaft wichtig. Scheinbar unabhängig von dem Ausdruck des Landschaftsbildes sind die kurzen Bemerkungen, die der Künstler nicht zum Bildtitel, sondern zum Bildinhalt macht. Es sind Assoziationen und Reflektionen, die durch den Anblick der Großartigkeit dieser besonderen Weltgegend ausgelöst worden sind. Sie können den Eindruck, den der Künstler von der Landschaft gewonnen hat, durch die Nennung von gleichzeitigen Wahrnehmungen, die im Bild nicht zu sehen sind, näher bezeichnen. Das langsame Vorüberschweben einer Wolke scheint die Landschaft in entgegengesetzter Richtung zu bewegen. Deshalb heißt es zur Vergewisserung »la nube sabe pasar la montaña no puede caminar« (S.58) Elemente der Zivilisation werden angesprochen durch das Flugzeug geräusch, das zu hören war (»se oyó un avión« S.62), oder durch das nicht sichtbare Auto, das vorüber raste (»un automóvil pasó«). Es können aber auch Überlegungen sein, die mit den Eingriffen der Menschen in die Natur zu tun haben. Mit dem Trachit-Berg Tindaya verbinden sich die Gedanken über das gescheiterte Projekt von Eduardo Chillida (»el olimpo de la buena intención« S.35). Die Begriffe »amortización« (S.77) und »urbanización« (S.75) weisen auf die fortschreitende Nutzung der Natur hin, auf die Gefahren, die der Natur durch die Menschen drohen. Ein Bild der Zerstörung bietet der Berg La Laguna durch den Abbau von Lava-Asche (»picón para los jardines delanteros« S.42).

Dem Natureindruck wird durch die Schrift seine Bedeutung als Anlass zu einem schönen Landschaftsbild genommen. Die bildmäßigen Mischtechnik-Aquarelle beschränken sich nicht auf die Ästhetik des schönen Scheins; der suggerierten Schönheit ist ein Tropfen Wehmut beigemischt. Von der augenblicklichen Erscheinung der Landschaft schweifen die Gedanken des Künstlers ab in die Vergangenheit und in die Zukunft. In die Wahrnehmung einbezogen wird das Historische der Landschaft als Gewordene und sich Verändernde, vor allem durch die lokalen und globalen Aktivitäten der Menschen. In der Schilderung der Landschaft Fuerteventuras spiegelt sich die veränderte Bewußtseinslage der Menschen im Verhältnis zur Natur. Der Landschaftshintergrund wird zum Träger eines Gedankenbildes, das sich mit kurzen Zurufen an den Betrachter wendet. Die Bilder machen darauf aufmerksam, dass die Natur in einem Prozess mit der Zivilisation gesehen werden muss und dass die Grenzen zwischen natürlicher Natur und gemachter Natur verschwimmen. Sie können dazu beitragen, das Naturbewußtsein zu schärfen.

Anmerkungen
1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Ges. Schriften Bd. 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970, S. 105
2 Carl Gustav Carus, Neun Briefe über Landschaftsmalerei. Verlag W. Jess, Dresden [o. J.], S. 58
3 Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur. Hrsg. von Adolf Meyer-Abich, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, S. 33
4 Gernot Böhme, Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer
technischen Reproduzierbarkeit. Edition Suhrkamp, Neue Folge, Bd. 680, Frankfurt am Main 1992, S. 117

Auch wenn man die Bilder von Peter Wehr zunächst geschichtslos unbefangen betrachtet und auch wenn man annimmt, dass sie aus der unmittelbaren Anschauung der Natur stammen, kann man nicht umhin, sie in der Tradition der Landschaftsmalerei zu sehen. Da sich unsere Auffassung von Natur und Landschaft seit der Romantik im Sinne einer Verwissenschaftlichung und Ausbeutung stark gewandelt hat, können wir gespannt sein, wie sich das moderne Bewußtsein in heutigen Landschaftsbildern ausdrückt. Jedenfalls würde eine Romantisierung der Landschaft nicht unserem Gefühl entsprechen und deshalb unecht, wenn nicht kitschig wirken. Auch eine impressionistische oder expressionistische Darstellung erschiene unzeitgemäß und im Stil epigonal.

Landschaft benennt immer schon eine Aneignung der Natur durch den Menschen. Landschaft ist bereits ein kultivierter Ausschnitt aus der großen Natur, die dem Menschen fremd und bedrohlich gegenüber steht. Sie wird weniger handelnd erfahren, vielmehr wird sie als Ganzes in ihren typischen Formen und ihrer charakteristischen Vegetation durch die Betrachtung erfasst. Da sie ästhetisch - vor allem mit den Augen - wahrgenommen wird, ist sie von Anfang an Landschaftsbild. Wir sprechen von Naturgemälde und meinen die Erscheinungsweise der Natur als ein sich selbst malendes Gemälde. Für die ästhetischen Qualitäten, sei es der sanften oder dramatischen Landschaft im wechselnden Licht des Himmels, haben jedoch erst die Landschaftsmaler den Menschen die Augen geöffnet. Dabei ist zu bedenken, dass die Sicht auf die Landschaft geschichtlich und kulturell geprägt ist. Ebenso wie die Landschaften sich verändern, wandelt sich auch die Einstellung der Menschen zu ihr. Das ehrfürchtige Staunen über ihre Großartigkeit machte sie zur erhabenen Landschaft, der Wunsch nach Vollkommenheit zur Ideallandschaft und der heutige Pragmatismus zur nutzbaren Landschaft.

Das Landschaftsbild ist jedoch nicht nur Prospekt, der den Blick nach außen lenkt. Als Bildwirklichkeit ist Landschaft ein Konstrukt, eine Erfindung der Künstler. Natur als ein Schönes lässt sich nicht abbilden, wie Adorno schreibt: »Denn das Naturschöne als Erscheinendes ist selber Bild. Seine Abbildung hat ein Tautologisches, das, indem es das Erscheinende vergegenständlicht, zugleich es wegschafft.«1 Dass das Landschaftsbild keine Abbildung, sondern eine Erfindung ist, macht die Vielfalt der Landschaftsbilder verständlich. Wie wenig verbindlich die reale Landschaft für das Bild ist, kann man leicht erkennen an den zeitlich nicht weit auseinander liegenden, aber ganz unterschiedlichen Landschaftsbildern von Monet, Cézanne und dem frühen Kandinsky: Das Flirren des Atmosphärischen eines Monet, die konstruktive Klarheit von Cézanne und die expressive Farbenglut Kandinskys. Kennen wir die Bilder der Maler, so projizieren wir ihre Bilder in die reale Landschaft und sehen sie sozusagen mit ihren Augen. Das Landschaftsbild kann aber auch als Medium benutzt werden, in dem sich unterschiedliche Weltanschauungen und künstlerische Inten-tionen manifestieren. In den Bildern von Anselm Kiefer veranschaulicht die Landschaft den Ort historischer Ereignisse (»Hermannsschlacht« oder »Unternehmen Wintergewitter« (Schlacht um Stalingrad)), und der Holländer Armando beschuldigt in stark abstrahierten Schwarzweiß-Bildern die Natur als Mitwisserin und Zeugin menschlicher Verbrechen (»Schuldige Landschaft«). Wegen der möglichen Projektion der verschiedensten Ideen und wegen unbegrenzter stilistischer Ausdrucks- weisen kann das Landschaftsbild als Kunstgattung seine Aktualität nicht verlieren.

Obwohl die Landschaft im Bild immer eine erfundene Bildwirklichkeit ist, muß der Bildfindung doch ein bestimmtes Naturerleben zugrunde liegen, ohne welches der Bezug zur äußeren Realität verloren ginge. Diese Spannung zwischen Naturerfahrung und bildnerischer Umsetzung charakteri-siert auch die großformatigen Wasserfarbenbilder auf Papier von Peter Wehr. Die Aquarelle, hergestellt in einer Mischtechnik, die einen mehrschichtigen Farbauftrag ermöglicht, sind Landschaftsbilder, die aber im eigentlichen Sinne keine Landschaften schildern, sondern die rauhe, noch nicht dem Menschen verfügbar gemachte Natur der Bergwelt Fuerteventuras. Alexander von Humboldt gebrauchte den schönen Begriff »Weltgegend«, eine von Geologie, Klima und Pflanzendecke geprägte bestimmte Gegend der Welt, die dem Menschen gegenüber und damit vor Augen liegt. Dieser Begriff veranschaulicht sehr treffend das Verhältnis zwischen dem betrachtenden Menschen und der unwirtlichen Natur. Der Maler scheint allein dieser menschenleeren Weltgegend, vor der sich der Mensch seiner Kleinheit bewusst wird, gegenüber zu stehen. In dieser Beziehung von Subjekt und Objekt bleibt die Natur die Fremde, die Peter Wehr mit den Augen des Fremden wahrnimmt. Er sieht das Gewordene aus Vulkanismus und Erosion, und er sieht die Landschaft bereits als Vergehende, insbesondere weil die Menschen sie als Aktionsraum benutzen und vernutzen werden. So halten die Bilder die Schönheit der Natur als ein Erhaschen vor dem Verschwinden fest.

Ohne abbildend zu sein, rufen die Aquarelle von Peter Wehr im Betrachter die Ansicht der Natur hervor, wie sie sich dem Menschen darbietet in ihrer sinnlichen Erscheinung. Trotz der großen strukturellen Ähnlichkeit, welche die Erdkruste in ihrer physischen Beschaffenheit hat, fangen die Bilder unverkennbar die charakteristische Physiognomie der vulkanischen Gebirgszüge Fuerteventuras mit ihren Calderas und Barrancos ein, über die sich der Himmel strahlend oder bedrohlich wölbt, so dass man sich an den Satz von Carl Gustav Carus erinnert fühlt: »Der Himmel hinwiederum in voller Klarheit, als Inbegriff von Luft und Licht, ist das eigentliche Bild der Unendlichkeit;«2 Der Eindruck der Unendlichkeit wird dadurch verstärkt, dass die Berghöhen wie in den Weltraum exponiert erscheinen und damit das Planetarische der Erde verdeutlichen. Die Bilder geben eine Ahnung davon, wie Empedokles auf den Gedanken der vier Elemente Feuer, Erde, Wasser, Luft kam, aus denen alles gebildet sein soll. Hier in der vulkanischen Inselwelt mit den einstmals feuerspeienden Bergen und der erstarrten Lava scheinen sie noch in reiner Form zu existieren. Die vorwissenschaftliche Auffassung der vier Elemente ist der unmittelbaren Erfahrung des landschaftlichen Gesamteindrucks angemessener als die heutige naturwissenschaftlich geprägte Sicht.