Text im Katalog zur Ausstellung
»Löschpapier« , 2005
von Hans Dickel,
in der Hamburger Kunsthalle
und im Centro de Arte Juan Ismael, Puerto del Rosario, Fuerteventura

Identität und Transformation

Die Technik aber erfordert Konzentration und genaue Berechnung, denn jeder Strich muß präzise sitzen, da der Filzstift keine Korrekturen erlaubt. Die Figuration der Zeichnungen hat Peter Wehr vorher genau kalkuliert und doch drängte sie mit offensichtlich emotionalem Nachdruck auf das Papier, das “Löschpapier“. Es handelt sich hier gleichsam um die grafischen Röntgenbilder der in den Pastellen verschlossen dargestellten, in sich gekehrten, gedankenverlorenen Köpfe. Die dort noch intakten Formen scheinen hier aufzubrechen, ein bewegtes Innenleben preiszugeben. Ihre Farbigkeit unterscheidet sich vom moderaten Braun, das in den Pastellen alle Gegensätze dämpft und harmonisiert, während sie hier eher dramatisch gesteigert sind. Rot und Blau werden als kontrastierende Farben eingesetzt, die nicht nur eine geschlechtsspezifisch konnotierte Spannung miteinander aufbauen. Die Striche fügen sich nicht zu einer Farbfläche, wie in den Pastellen, sie brechen in unterschiedliche Richtungen auseinander, als könnten sie jeweils den Ausbruch, Aufbruch zu Anderem anschaulich machen. Während die schwarz gezogenen Konturen optisch zurücktreten, tauchen gelegentlich chiffrenhafte Formen in oder neben den Strichbündeln auf, unerwartete Gegenstände geben einen Hinweis auf überraschende Begegnungen oder kündigen einen Moment der Handlung an. Dieser Eindruck ergibt sich im wesentlichen aus dem dynamisierten Strichbild der Zeichnungen. In seinem Vibrieren möchte es zeigen: hier ist nicht etwas, hier wird etwas.

Nicht umsonst stehen die Gesichter jeweils frei auf dem Papier, im Weiß des Möglichen. Kein kontemplatives Ruhen, allenthalben Bewegung, die zur Handlung drängt. In ihrer archaisierenden Formensprache ähneln die Strichbilder den figürlichen Gemälden der ,Neuen Wilden‘ aus Köln und Hamburg - Walter Dahn, Jiri Georg Dokoupil, Werner Büttner, Albert und Markus Oehlen - , die mit ihrem Hunger nach Bildern das Anspruchsniveau herkömmlischer peinture gezielt unterboten haben.(4) Die Farbkontraste dieser Zeichnungen erinnern dagegen eher an das Flackern und Flimmern der Neon-Figuren Bruce Naumans, die das Individuum als Körper in der vermeintlichen Gesetzmäßigkeit seiner mechanischen Sexualität zeigen.(5) Diese Blätter Peter Wehrs sind wirklich Psychogramme, aber nicht als Niederschrift unbewußter Impulse, wie es in der existenzialistischen Kunst der 50er Jahre gewesen sein mag. Im Rückgriff auf bildersprachliche Elemente aus der Kunst- und Kulturgeschichte formuliert Wehr Konfigurationen, die jene Impulse lesbar machen. Ähnlich haben gleichzeitig auch die italienischen Künstler Sandro Chia, Francesco Clemente, Enzo Cucchi, Nicola de Maria und Mimmo Paladino gearbeitet, wobei die Kunst auch für sie ein Medium der Ego-Navigatio sein sollte, in der ständig neuen Begegnung des Ich mit anderem.(6)

Sieht man diese beiden Werkgruppen zusammen, und Peter Wehr hat bei der Hängung in der Hamburger Kunsthalle darauf geachtet, daß der inner circle der melancholischen Blätter von dem außen gehängten Fries der schnell gezeichneten, lauten Köpfe abgetrennt wird, dann möchte man die Zeichnungen als ein Kaleidoskop beschreiben, als stets neue Aufspaltung und Verbindung der Komponenten einer Psyche. Peter Wehr macht den Betrachter zum Augenzeugen einer Metamorphose in progress. Die in seine “Löschpapiere“ eingegangenen inneren Konflikte kehren für den Betrachter sublimiert zurück als Spannung zwischen Ich und anderem. Mal ist es nur die Kontur, die zitternd ein Echo des Innenlebens ausbildet, mal sind die Gesichtszüge verformt, verzerrt, als müßten sie einem Druck nachgeben.

Wehrs Köpfe sind als Spielbälle von Kräften dargestellt, die in ihnen selbst schlummern und sie bis zum Kontrollverlust erfassen können, darin sicher der Anregung von Bruce Nauman verpflichtet. Zum Werk des Amerikaners bestehen einige motivische Parallelen, etwa die Kollision von Schädeln, das Grimassieren der Gesichter. Die Varianten der Kopfform sind nicht literarisch begründet, sie sind eher als Formmetaphern jener Kräfte des Innenlebens zu sehen, mit denen sich das Ich in seiner Erfahrung des Anderen permanent verändert. Wehrs Köpfe sind also nicht so sehr Charakterköpfe, die ein fixiertes Ich voraussetzten, sie sind eher Kopfcharaktere, die Elemente eines Ichs in der Veränderung anzeigen. “Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ (Francis Picabia).(7)

Darüber hinaus geht der Kopf bei Wehr aber immer durch die Hand des Zeichners. “Beim Zeichnen (kann) sich der Kopf unmittelbar der Hand anvertrauen“ (Martin Warnke) (8), um aus der Zeichnung etwas Neues über sich zu erfahren. “Ein Bewußtsein seiner selbst kommt von einem bestimmten Maß an Aktivität und man kann es nicht erreichen, indem man einfach über sich nachdenkt. Führt man körperliche Übungen aus, erzielt man bestimmte Arten von Bewußtsein, die sich nicht aus Büchern gewinnen lassen.“ (Bruce Nauman).(9) Hans Dickel


Anmerkungen

(1) Charles Blanc, Grammaire des arts du dessin (1867). Hrsg. v. d. École nationale supérieure des beaux-arts. Paris 2000, S. 53-56, 553-555, 557f. Vgl. dazu: Anthea Callen, The Spectacular Body. Science, Method and Meaning in the Work of Degas. Yale University Press 1995, S. 124-126.

(2) Kat. der Ausst. David Hockney. Zeichnungen 1954-1994. A Drawing Retrospective. Hrsg. v. Ulrich Luckhardt, Hamburger Kunsthalle 1995. Hamburg 1995 Kat. der Ausst. Sigmar Polke, Arbeiten auf Papier 1963-1974. Bearb. v. Margit Rowell, Hamburger Kunsthalle 1999. Ostfildern 1999.

(3) Kat. der Ausst. Munch in Deutschand. Hrsg. v. Uwe M. Schneede. Hamburger Kunsthalle 1995. Stuttgart 1994.

(4) Wolfgang Max Faust, Gerd de Vries, Hunger nach Bildern. Deutsche Malerei der Gegenwart. Köln 1982.

(5) Kat. der Ausst. Bruce Nauman. Versuchsanordnungen Werke 1965-1994. Hrsg. v. Frank Barth. Hamburger Kunsthalle 1998.

(6) Kat. der Ausst.: Egonavigatio (Sandro Chia, Francesco Clemente, Nicola De Maria, Mimmo Paladino), Mannheimer Kunstverein 1980; Achille Bonito Oliva, The Italian Trans-Avantgarde, in: Flash Art, Nr. 92/93, Okt./Nov. 1979, S. 17-20.

(7) Francis Picabia, “Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ Aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt. Hamburg 1995.

(8) Martin Warnke, Der Kopf in der Hand, in: Kat. der Ausst. Zauber der Medusa. Europäische Manierismen. Hrsg. v. Werner Hofmann. Wiener Festwochen 1987. Wien 1987, S. 55-61, hier S. 60.

(9) Bruce Nauman im Gespräch mit Willoughby Sharp, in: Avalanche, Winter 1971, S. 27.

»Wer die Dinge nicht vermengt und durcheinanderwirrt,
der gerät selbst in Verwirrung.«
Miguel de Unamuno, Nebel (Niebla 1914),1926

“Unser Kopf ist rund, damit das Denken die
Richtung wechseln kann.“ (Francis Picabia)

Mit seinen Kopfstudien hat sich Peter Wehr in den 1980er Jahren am Vorbild der Menschendarstellung Giorgio de Chiricos, Pablo Picassos, Max Beckmanns geschult, nachdem er bereits als Student naturalistisch zu zeichnen gelernt hatte. Sie befreiten Handgelenk und Gestaltungsspielraum, so daß seine Suite melancholischer Köpfe (1994), die jetzt in der Ausstellung der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist, unbelastet von Sorgen um zeichnerisches Können entstehen konnte. In zarter Pastelltechnik gezeichnet, bildet sie dort den inner circle. Dagegen ist Peter Wehrs zweite Suite stark farbiger Filzstiftzeichnungen extrovertiert gehängt. Sie zeigt Köpfe in Momenten der Unruhe. So bleiben in der Ausstellung beide Werkblöcke, der zentrierte und der eher exzentrische, aufeinander bezogen.

Die beiden unterschiedlichen Techniken der Löschpapiere Peter Wehrs sind für sich gesehen schon aufschlußreich und bedeutsam: Das Pastell, im 19. Jahrhundert durch Edgar Degas’ Bilder von Balletteusen prominent geworden, galt in der akademischen Kunstlehre als eine mögliche Verbindung von Zeichnung und Malerei: Charles Blanc vergleicht es in seiner Grammaire des arts du dessin (1867) mit der Verbindung von Geist und Körper, und wie er meint, analog von Mann und Frau, das Pastell sei gleichsam die weibliche Form der Zeichnung.(1) Der Filzstift-marker dagegen erlebt seine Karriere in der Hochkunst erst mit der POP Art. Die schrille Farbigkeit des billigen Materials hat die Künstler der roaring sixties nicht nur nicht abgeschreckt, sie haben sie sogar als zeitgemäß begrüßt. David Hockney und Sigmar Polke, deren Zeichnungen und Graphiken in der Hamburger Kunsthalle verschiedentlich zu sehen waren, mögen auf Peter Wehr anregend gewirkt haben.(2)

Beide Werkgruppen, die Pastelle mit den meist in rotbraunen Grund gebetteten, melancholisch gestimmten Köpfen, und die Filzstiftskizzen von innerlich erregt wirkenden Köpfe schöpfen die Materialeigenschaften der jeweils verwendeten Technik aus. Bedeutung wird also schon aus der Zeichnung selbst generiert, nicht erst aus den psychischen Inhalten, die Peter Wehr auf den Bildträger seiner “Löschpapiere“ projiziert haben mag.

In der Stilisierung der Gesichtszüge folgt er, wie viele Künstler vor ihm, dem Beispiel der etruskischen Kunst, die nicht vorrangig individuelle Menschen abbildete, sondern eher Prototypen des Menschen ausbildete. Ihre Rezeption in der modernen Kunst, etwa bei den Italienern Mario Sironi, Amedeo Modigliani, auch Jannis Kounellis und Enzo Cucchi, machte das Antlitz zum Ausdrucksträger psychischer Befindlichkeit.

Wie in der Moderne üblich, spielte das akademische Können dabei keine vorrangige Rolle mehr, obwohl es den Zeichnungen zugrundeliegt. An die Stelle des Wiedererkennens von Bekannten tritt nun das Erkennen von Unbekanntem.

Hatte Wehr in seinen frühen, akademischen Kopfstudien noch nach Licht- und Schattenzonen differenziert, um die Gesichter so zu modellieren, daß sie beinahe bedrohlich lebendig erscheinen, so verzichtet er in der späteren Zeichnungen auf naturalistische Details. Geblieben ist nur die Technik: Packpapier als einfacher, unprätentiöser Bildträger wird zunächst mit Acrylfarben in warmen Erdtönen ’grundiert‘, darauf zeichnet Wehr mit Pastellkreiden. Seine melancholischen Köpfe sind stets ohne Körper dargestellt, frei schwebend, sie erscheinen wie abgehoben, ungebunden - als träumten sie. In ihrer Begegnung mit einem Anderen, einem Gegenstand oder einem zweiten Kopf, deutet sich jeweils ein bevorstehender oder bereits wirksamer Prozeß der Transformation an. Abwandlungen des Kopfes in merkwürdigen Osmosen seiner Form weisen hin auf denkbare Verwandlung. Es handelt sich bei diesen Bildern aber nicht um impulsiv aufgezeichnete Psychogramme, die als Zeichen für ein Lebensgefühl dienen könnten, wie in der Kunst der 50er Jahre. Es sind eher Ideogramme, die das Potential der Psyche erkunden und dem diskursiven Zugang erschließen können, ähnlich den zeitgleichen Pastellen von Francesco Clemente.

Auf manchen Blättern sind Konstellationen von zwei Köpfen oder auch Metamorphosen einzelner Köpfe zu sehen. Zerfließende Kopfformen scheinen externen Kräften nachzugeben. Sie beugen sich und strecken sich, manche gehen einen Dialog mit Nachbarköpfen ein. Die Zuneigung von Gedanken und Gefühlen wird sichtbar in der Dehnung sonst fester Formen. In wuchernden Hörnern und anschmiegsamen Blättern erkennt man das Spielen mit der Verschlüsselung erotischen Begehrens, sowie sich andere Formen bewußt ausstellen als Metaphern für die Sexualität. Wolkige Gebilde symbolisieren unbestimmte Sehnsüchte und hinterfragen zugleich ihre Strategien. Blatt M 69 zeigt zwei Köpfe, einer stramm und stur, einer nachgiebig, eine Hand befehlend, eine entgegen kommend. Wenn, wie in Blatt M 71/72, zwei ausgewölbte Köpfe über ein Magma malerisch verbunden sind und andere Köpfe über eine Art Lockenschweif miteinander verknüpft sind, wer dächte da nicht an Edvard Munch, der ebensolche energetisch aufgeladenen Farbbahnen malte, um die emotionalen Kräfte im Zwischenmenschlichen, Zwischengeschlechtlichen darzustellen (vielleicht eine Abbildung?)(3)
Kunsthistorische Bezüge sind in Wehrs Löschpapieren nicht selten unbewußt bewußt inszeniert. Im Aussenden solcher Farbstrahlen, oder auch in ihrem Einfallen in die Gesichter, werden psychische Energien zu Anschaung gebracht. Die Zerrung, Drehung, Streckung oder auch Raffung eines Kopfes mag innere Kräfte jenseits der intakten Oberfläche bezeichnen. Im stellenweise betont gestischen Niederschlag der Farbe könnten Handlungsimpulse gemeint sein. Während die markante Schädeldecke mit dem oben liegenden Gehirn meist regelmäßig, dickköpfig, ausgebildet ist, variieren die unteren Gesichtsteile, denn als Organe der sinnlichen Wahrnehmung sind sie flexibler, offener, extrovertiert und aufnahmebereit. Viele Köpfe in dieser Werkguppe der Löschpapiere sind janusköpfig gebildet. Sie bringen die Vorstellung eines Ichs in der Spaltung, in der Divergenz, zum Ausdruck.

Was hier noch in einer äußeren Form gebunden erscheint, bricht sich in den Filzstiftzeichnungen eine Bahn nach außen. Diese scheinen geradezu Explosionen des Innenlebens veranschaulichen zu wollen. In ihrem betont nervigen Strichbild sind die Filzstiftzeichnungen grundverschieden vom zarten Farbauftrag der Pastelle. Kraftvolles Kritzeln statt ruhiger Schichtung der Farben, zerrende Linien sprengen die Kontur auf. Stakkatohaft schnell sind sie notiert, grell in den Farben suggerieren sie den hektischen Gestus der Gefühle, eine Selbstauflösung des Ich.